Bildbetrachtung, Analyse und Interpretation: »Die Tänzerin«

Die Tänzerin
»Die Tänzerin«

EINLEITUNG

Das abstrakte Gemälde „Die Tänzerin“ ist ein Hochformat mit den Maßen 110 × 80 cm und wurde 1986 auf eine alte Holztafel mit Acrylfarben gemalt. Der schwarze Rahmen wurde aus einfachen Holzleisten zusammengenagelt.

Das Bild öffnet den Blick auf einen dunklen perspektivlosen Raum. Aus einer wolkigen, feuerroten Atmosphäre strahlen unregelmäßige gelbe Formen. Dahinter ist ausschnittsweise ein Universum aus schwarzem Nichts zu erahnen. Darin schweben dunkelblaue Kreise mit weißen Punkten in der Mitte.

Drei in der Tiefe gestaffelte Bildgründe

1. Vordergrund: Gelb

In der Bildmitte befindet sich eine gelbe abstrakte Figur, deren grobe Umrisse der Form eines großen Ypsilon ähneln. Die Figur scheint frei im Raum zu schweben. Allerdings gibt es eine schmale Waagerechte, die bis zum rechten Bildrand führt.

Darüber, genau auf der Mittelsenkrechten, schweben drei kleine Formen. Die unterste bildet zusammen mit dem kleinen Rechteck darüber eine Silhouette, die aussieht wie ein Schlüsselbart von vorn gesehen. Mit etwas Abstand schließt ein weiteres und etwas größeres Rechteck genau mit dem Bildrand ab.

Unter der Y-Figur und etwas links von der Mittelsenkrechten erhebt sich eine gelbe Säule mit einem schrägen Oberteil. Dieses verläuft von links oben nach rechts unten. Auf der linken Seite des Ypsilon befinden sich zwei Formen auf der Höhe der Mittellinie. Die obere dornartige Figur läuft von links oben nach rechts unten spitz zu. Die Spitze dieses dreieckigen Dorns wird durch einen oben schmalen und unten breiteren Körper gehalten, der vom linken Bildrand angeschnitten wird.

Unter dem spitzen Dreieck fügt sich eine waagerechte Form ein, die den Verlauf der Diagonale des Dreiecks stoppt. Dieser Riegel wird von einem länglichen, vom linken Bildrand kommenden Unterteil gehalten.

Im Bereich der Mittellinie schließt eine eckige vertikale Form mit ihrer gesamten Höhe am rechten Bildrand ab. In der Waagerechten wird diese unten durch eine Wellenlinie begrenzt. Auf ihrer linken Seite ist die Form nach links vergrößert. Dort zeigt sich ein schmaler Einschnitt.

2. Mittelgrund: Rot

Hinter den gelben Formen wabern feuerrote Wolken in einer glühendheißen Atmosphäre. An manchen Stellen enden diese zufälligen Formationen mit scharfen Kanten.

3. Hintergrund: Blauschwarz

Ganz hinten: Schwarz. Darin schweben stellenweise dunkelblaue Kreise mit weißen Punkten in der Mitte. In der linken unteren Ecke sind es vier Kreise, oben links zwei, oben rechts von der Mitte ein Kreis, ebenfalls oberhalb und unterhalb der waagerechten Mittellinie ein Kreis, der als Auge gedeutet werden kann; und in der unteren rechten Ecke sind es vierundzwanzig Kreise mit jeweils einem weißen Punkt, die die Silhouette einer Tänzerin mit weitem Ballkleid erahnen lassen.

Der Goldene Schnitt

„Zu allen Zeiten und bei allen Völkern lässt sich nachweisen, dass der Mensch sowohl in der Natur als auch in der von ihm selbst gestalteten Umwelt Proportionen nach dem Goldenen Schnitt kognitiv [bei der Wahrnehmung] bevorzugt.“ schreibt Kimberly Elam in ihrem Buch über Proportion und Komposition (2006).

Die rote Senkrechte teilt die Breite des Bildes (80 cm) in einen längeren (49,56 cm) und einen kürzeren (30,56 cm) Abschnitt. Wird der längere Abschnitt durch den kürzeren dividiert, erhält man als Ergebnis 0,618. Wird die gesamte Bildbreite durch das Maß des längeren Abschnitts geteilt, ist das Ergebnis ebenfalls 0,618.

Die Höhe des Bildes von 110 cm wird durch den Goldenen Schnitt in einen längeren Abschnitt von 67,98 cm und einen kürzeren von 42,02 cm geteilt. Auch hier ergibt sich bei der Division des längeren durch das Maß des kürzeren Teils als Ergebnis 0,618. Wird die Bildhöhe durch das Maß des längeren Abschnitts geteilt, ist das Ergebnis wiederum 0,618. Dieser Wert wird auch die Goldene Zahl Phi genannt.

Die roten Linien des Goldenen Schnitts (GS) teilen das Gemälde in vier Bereiche. Besonders auffallend ist der Bereich unten links, der durch die gelbe Säule und den gelben Riegel hermetisch vom Rest des Bildes abgeschottet wird. Vier blaue Kreise schweben im schwarzen Nichts; davor die rote Ebene, teilweise mit geraden Linien gegen das Schwarz abgegrenzt.

Im oberen linken Bereich: eine rutschende Bewegung von oben links bis zur Bildmitte. Diese Rutschbahn wird von der dreieckigen dornartigen Figur gebildet und wird unterstützt vom linken Teil der Ypsilon-Figur. Darüber, in der oberen linken Ecke, schweben zwei blaue Kreise in brennendem Rot.

Der obere rechte Teil der GS-Bereiche wird dominiert von der Ypsilon-Figur und den drei kleinen gelben Formen auf der Mittelachse. Neben diesen, ein blauer Kreis, der zusammen mit dem schwarzen Hintergrund und den roten Wolken scheinbar den Körper eines brennenden Menschen oder Dämons erkennen lässt. Der rechte, nach oben weisende Teil des Ypsilons, ist deutlich breiter als die linke Seite und reicht fast bis zur rechten oberen Ecke.

Auf der Höhe des Ellbogens des Y-Arms ist ein weiterer blauer Kreis zu sehen, und darunter die schmale Waagerechte, die bis zum rechten Bildrand führt. Irgendwie rüsselartig verankert sich die rote Masse rechtwinklig in der Achselhöhle des Ypsilon.

Der schon erwähnte Kreis, der als Auge gedeutet werden kann, befindet sich knapp oberhalb der waagerechten Linie des Goldenen Schnitts und wird von einem länglichen vertikalen Rechteck eingerahmt, so dass der Eindruck eines rot geschminkten Auges entsteht.

Die Blickführung im Bild endet in dem Bereich unten rechts und zeigt das Ziel des Weges: die Entwicklung eines neuen Lebensgefühls. Die linke Seite der gelben Säule schließt genau mit der Vertikalen des Goldenen Schnitt ab und direkt unter der Waagerechten befinden sich die Füße des Ypsilons und der zum Auge passende untere Gesichtsteil mit Mund, Kinn und Hals. Diese drei gelben Formen bilden den Raum für die Tänzerin in der rechten unteren Ecke. Im Gegensatz zum linken Verlies gibt es hier Bewegungsfreiheit und Verbindungen zu den anderen Bildbereichen.

Die Ebenen

Das Phi-Raster: Das Raster der GS-Linien

Wenn die längeren und die kürzeren Abschnitte der roten Linien in ihrer Position vertauscht werden, wird eine Variation des Goldenen Schnitts durch die Linien in Orange angezeigt. Zusammen ergeben die Linien nun das sogenannte Phi-Raster mit neun Feldern.

Das Bild kann nun in drei Ebenen unterteilt werden. Es ergeben sich ein unterer, ein mittlerer und ein oberer Teil mit jeweils drei Feldern. Die drei Ebenen werden durch senkrechte Streifen in eine linke, eine mittlere und eine rechte Spalte unterteilt. Werden diese Unterteilungen auch auf den dahinterliegenden Mittelgrund und Hintergrund übertragen, ergeben sich 3 × 9 = 27 Felder.

Mit dem dreifachen Neun-Felder-Raster ist der grundlegende Plan der Komposition gefunden: Eine Zeitachse im Bild wird sichtbar: die linke Spalte des Phi-Rasters zeigt die Vergangenheit, die mittlere die Gegenwart und die rechte Spalte öffnet den Blick in die Zukunft. Die übereinanderstehenden Ebenen repräsentieren von unten nach oben gesehen: das Fühlen, das Handeln und das Denken. Der gelbe Vordergrund, der rote Mittelgrund und der blauschwarze Hintergrund sind die Räume für Bewusstes, Triebhaftes und Unbewusstes.

Interpretation

Wesentliche Kompositionselemente im Gemälde sind die blauen Kreise. Sie visualisieren Energieballungen im Unbewussten, die sich zu bestimmten Formen und Zuständen formieren können. In einem alten Chemiebuch aus meiner Schulzeit werden Ladungswolken von Elektronen so dargestellt.1

Die vier Schnittpunkte des Phi-Rasters ziehen die Aufmerksamkeit stark auf sich. Bildbereiche in deren Nähe sind deshalb besonders wichtig für die Aussage. Eine starke Wirkung hat im Gemälde der Schnittpunkt der roten Linien.

Der Fuß des Ypsilon drückt sich in gewisser Weise auf der Schräge der stabilen gelben Säule ab. Die rutschende Abwärtsbewegung von oben links wird umgeleitet in eine diagonale Aufwärtsbewegung nach oben rechts. Das Ypsilon zeigt sich hier in der Funktion eines Gabelzeichens, das eine Entscheidung und eine Richtungsänderung fordert. »Schon für Pythagoras galt es als schematische Darstellung des Lebenslaufes: der zunächst gerade Weg, der sich an einer bestimmten Stelle in den ›guten‹ und ›schlechten‹ teilt. Nach oben geöffnet ist es Symbol der wartenden Seele«.2

Die drei gelben Formen über dem Ypsilon können nun mit einer gewissen Berechtigung als Hinweis auf ein Schlüsselerlebnis gedeutet werden. Das nach oben geöffnete Gabelzeichen hat über den Schlüssel Verbindung zu einem höheren Bereich. Das mit dem oberen Rahmen verbundene gelbe Rechteck symbolisiert die Vernunft und das bewusste rationale Denken.

Meine Beschäftigung mit der Kunst galt anfangs der Suche nach einer intuitiv fassbaren Wahrheit, die sich hinter der Realität verbirgt. Im Laufe der siebziger Jahre hatte ich mich mit C. G. Jungs Archetypen und dem kollektiven Unbewussten 3 und mit seiner Phänomenologie des Geistes im Märchen 4 beschäftigt. Ich begeisterte mich für den Dadaismus von Max Ernst, den Surrealismus von Dali und für Willi Baumeister mit Das Unbekannte als Potential des schöpferischen Menschen.5

»Max Ernst versuchte […] durch die Erfindung und Befragung neuer Techniken bisher unbekannte Zugänge zum Unbewußen zu finden.«6 Er sagte: »Die Rolle des Malers besteht darin, einzukreisen und zu projizieren, was er in sich selbst sieht.«6 »Konsequent entschied er sich nun für eine visionäre Kunst, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Bilderwelt des Unbewußten zu erforschen und durch befreiende Verfahren künstlerisch umzusetzen.«6

Noch 1986, im Entstehungsjahr des Gemäldes, wandte ich mich vom Surrealismus und der Bevorzugung des Irrationalismus ab und begann bewusster, systematischer und konstruktiver zu gestalten. Motivation war zunächst vor allem auch die Freude an der freien Improvisation; nach und nach wurden die Kompositionen durchdachter und konstruktiver, das Forschen gezielter.

Als Fazit die hier sinngemäß zitierte Aussage des Philosophen Kierkegaard (1813 – 1855): »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.«

Anmerkungen

1. Heinz Rudolf Christen (1969): »Einführung in die Chemie«, S. 134 ff.

2. Adrian Frutiger (1998): »Der Mensch und seine Zeichen«, S. 75 u. 258 f.

3. Jung, C. G. (1972): »Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten« in »Bewußtes und Unbewußtes«

4. Jung, C. G. (1972): »Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen« in »Bewußtes und Unbewußtes«

5. Baumeister, Willi: »Das Unbekannte als Potential des schöpferischen Menschen« in Jürgen Claus (1969): »Theorien zeitgenössischer Malerei in Selbstzeugnissen«

6. Lothar Fischer (1979): »Max Ernst – in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.«


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